In den letzten Wochen und Monaten wurde vor allem eines sichtbar: Corona zeigt, wozu Schule da ist. Nicht nur stellt Schule einen wichtigen Aufenthaltsort für Schüler*innen dar, um Eltern zu entlasten, sondern ist zugleich, wichtige Strukturgeberin, Ort des Sich-Bildens in leiblichen Beziehungen und bereitet auf spätere Studiengänge und Berufe vor. Fazit: Schule ist nicht nur ein wichtiger Faktor auf dem Bildungsweg von Schüler*innen, sondern auch unerlässlich für das Funktionieren von Gesellschaft. Das ist viel und dafür kann man Schule schätzen!
Corona hat Schule ins Wanken gebracht und schnelle Überbrückungsmöglichkeiten eingefordert. Lehrinhalte mussten auf digitale Lernformen umgemünzt werden, so dass diese auch auf Distanz möglich waren und es mussten auch technische Lösungen gefunden werden. Lernplattformen mussten bestückt, neue Kommunikationswege erprobt und Datenschutzrichtlinien eingehalten werden. Ganz schön viel in sehr kurzer Zeit – nicht nur für Lehrer*innen sondern auch für Schüler*innen.
Die Realität zeigte, dass viele Schüler*innen mit dem neoliberalen Anspruch oder sagen wir, mit der Annahme, dass Schüler*innen mit einem selbstorganisierten Lernen zurecht kommen, überfordert waren. Ignoriert wurden damit die finanziellen, sozialen und kulturellen Ungleichheiten in den Lebensrealitäten vieler Schüler*innen. Das Ergebnis dieser Ignoranz: der Kontakt zu den Schüler*innen brach ab, Aufgaben wurden nicht erledigt, der Lernstand blieb stehen oder verschlechterte sich sogar insgesamt.
Als Projektreferentin arbeite ich an einer Schnittstelle zwischen Schule, Hochschule und Unternehmen. In meiner beruflichen Rolle musste ich, ähnlich wie Lehrer*innen auch, in den Digitalisierungs-Spagat, allerdings mit dem Thema der Beruflichen Orientierung.
Ziel meiner Arbeit ist es auf kommunaler Ebene Strukturen zu schaffen, die es jedem Jugendlichen in Düsseldorf ermöglicht, nach dem Abschluss eine konkrete Anschlussperspektive zu entwickeln. Dies funktioniert seit Jahren in Düsseldorf sehr erfolgreich. Wichtige Projekte und Kooperationen wurden initiiert und umgesetzt. In Zeiten von Corona machte sich allerdings eine schon seit Jahren langsam anschleichende und nun durch Corona verstärkte Frage auf, die es auch als Projektreferentin kritisch zu reflektieren und zu bewältigen galt: Wie lässt sich Berufliche Bildung/Orientierung digitalisiert denken? Denn auch in Zeiten von Corona haben Schüler*innen einen Abschluss erworben und müssen ihren weiteren Bildungsweg in Ausbildung oder Studium entscheiden und planen, und dies sollte und muss von jeder sozialen Lage aus in Düsseldorf möglich sein.
Mir war klar, dass ich nicht unkritisch mit der Digitalisierungs-Welle mitschwimmen kann. Ich musste mich vor der Konzipierung neuer Digitalisierungsprojekte fragen, wo die Grenzen digitaler Projekte liegen und wo sie Perspektiven erweitern können. Die Herausforderung bestand darin, Wege mit ihr zu finden, die Vorteile aus ihr zu ziehen und gleichzeitig nicht blind mit ihr in die unendlichen Weiten des Internets „davonzugleiten“. Denn genau das kann gefährlich werden, vor allem weil man dies dann unreflektiert auf dem Rücken der Schüler*innen tut. Der Blick auf die Lebensrealitäten der Schüler*innen musste der Startpunkt sein, auf dem Weg zu digitalen Lösungen Beruflicher Orientierung.
In den letzten Monaten fühlte es sich an, als würde aufgrund der ungewissen Lage und der Gefahr eines erneuten Lock-Downs, von überall her Digitalisierungsprojekte aus dem Boden sprießen – und diese waren nicht unbedingt vorrangig aus pädagogischen Disziplinen heraus konzipiert. Die Devise lautete: bevor es gar keine Angebote gibt, nehmen wir lieber das, was uns schnell und unkompliziert für Schüler*innen angeboten wird und diese kamen häufig leider aus der boomenden EDTech-Industrie.
Im Moment sind zwar Schüler*innen wieder in Schule, aber Projekte zur Beruflichen Orientierung können nicht in dem Maße durchgeführt werden, wie es vor Corona möglich war und dennoch sieht die Realität so aus, dass Schüler*innen Abschlüsse gemacht haben und jetzt in Studium oder Ausbildung starten wollen. Berufliche Orientierung muss also genauso wie Unterricht trotzdem passieren.
Die ersten Antworten darauf waren: kurzfristig aus dem Boden gestampfte Digitalisierungsprojekte – die, oft noch nicht die Bedürfnisse der Schüler*innen verarbeiteten. Ich frage mich dann oft: Wissen wir überhaupt, welche Sorgen Schüler*innen im Moment beschäftigen? Mit welchen Zukunftsängsten sie sich auseinandersetzen müssen? Wie stark sich die soziale Distanzierung auf die Gemütslage von Jugendlichen auswirkt? Mir fehlen in dem ganzen Digitalisierungswahn häufig noch genau diese Perspektiven, gleichzeitig können wir nicht auf diese warten. Und das ist ein Dilemma. Es scheint, als müsste man in den Digitalisierungs-Spagat, allerdings ohne sich vorher mit Dehnübungen warm gemacht zu machen. Das fühlt sich nicht gut an – das weiß jeder der sich mal als Funkenmariechen auf einer Karnevalsparty versucht hat, ohne jemals Teil einer Karnevalstanzgruppe gewesen zu sein – Aua.
Noch wichtiger als Zeit ist allerdings Haltung zu bewahren. Wenn wir aus der Not heraus Projekte unkritisch der boomenden EDTech-Industrie überlassen ohne diese pädagogisch zu überprüfen oder noch schlimmer selbst Haltung verlieren und Konzepte erarbeiten, die Schüler*innen nicht erreichen, weil diese ganz andere Probleme und Sorgen plagen, könnten wir dies auf dem Rücken der Schüler*innen austragen – und das ist nicht fair. Es gilt innezuhalten, zu überlegen, auch wissenschaftlich zu prüfen und von da ausgehend zu handeln.
Für einen Spagat braucht man Geduld, man muss seine Grenzen akzeptieren und sich langsam vorantasten. Eine Zerreißprobe – wie es so oft auch bei Bildungsthemen ist. Wenn wir aber kontinuierlich üben und Wege erproben, kann ein Abarbeiten sich lohnen. In Düsseldorf haben mein Team und ich ein Online-Tool entwickelt, bei dem wir eine unglaubliche Anzahl von Bildungswegen in Düsseldorf transparent gemacht haben, was wiederum nur digital umsetzbar war und gleichzeitig Ängste und Sorgen im Übergang thematisiert und hierfür ein Kommunikationsmedium (YouTube) eingebaut, welches von der Zielgruppe fast täglich verwendet wird.
Dieses Projekt startete schon vor Corona – Oktober 2019. Und wir haben fast ein Jahr gebraucht, um dieses in einem ersten Re-Launch wirklich gewinnbringend für Schüler*innen umzustricken. Während dieser Zeit galt es sich immer wieder die Möglichkeiten und Grenzen von Digitalisierungsprojekten bewusst zu machen und in das Konzept mit-einzudenken – eine ganz schöne große Herausforderung, angesichts der vielschichtigen Anforderungen…
Was hilft? Druck rausnehmen, auch von Seiten der Geldgeber*innen, die solche Projekte finanzieren. Für sich persönlich hilft es sich daran zu erinnern, wofür man den Digitalisierungs-Spagat übt und das sollte die Verantwortung sein, die wir gegenüber der nachfolgenden Generation tragen. Das heißt: rein in den Spagat – in manchen Phasen mit Schwung, manchmal eher mit aufgewärmten und vorbereiteten Muskeln und in anderen Zeiten mit Bedacht und einer kurzen Pause, in der hinterfragt wird, ob man sich wirklich in die richtige Richtung dehnt.
https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/coronavirus/UKE-Studie-Kinder-leiden-psychisch-stark-unter-Corona,uke678.html
Wie so oft wurde aus der Not eine Tugend gemacht. Die „Digitalisierungswelle“ oder der Hype, der durch Corona sich verstärkt hat übersieht viele Dinge die im Lebensraum Schule noch passieren, reduziert die Schule auf das lernen von Inhalten. Jede Person die einmal eine Schule besucht hat weiß, dass das vollkommener Unsinn ist. Freunde, Cliquen, Konflikte. Wahrscheinlich erinnern wir uns mehr daran, wer mit wem abhing, als an die Formeln des Matheunterrichts, wenn wir auf die Schulzeit zurückblicken.
Dies können digitale Konzepte nicht ersetzen. Ein „digitales Klassenzimmer“ müsste auch versuchen diesen Dingen Rechnung zu tragen, statt die Schule als einen reinen Ort des Lernens darzustellen, der er nie sein wird – so sehr sich dass auch gewünscht wird. Die Eltern, die die Isolierung mit den Kindern verbringen, werden nicht die Lehrer und Peers ersetzen können.
Grüße
Ja! Die Reduzierung des Ortes Schule zum ausschließlichen Lernort…Ich frage mich allerdings daran anlehnend, wie dann ein „digitales Klassenzimmer“ leisten kann, mehr als nur ein Lernort zu sein oder ob wir mit dem Versuch, dem realen Ort Schule mit einer digitalen Form nahe zu kommen, nicht einer Utopie Hinterrennen und damit nicht auch wichtige Ressourcen verschwenden, die an anderer Stelle besser angelegt wären. Also den Versuch lassen? Irgendwie angesichts der Erfahrung der letzten Monate auch nicht wirklich eine Alternative, oder?
Aus der Not eine Tugend zu machen ist aus einer Meta-Perspektive sicher auch gut auf die Digitalisierungswelle anwendbar – ich bin da allerdings eher schlicht und frage mich immer, was kann ich konkret aus meiner Situation oder aus meiner Position heraus tun, welche Wege gehen, einschlagen oder ausprobieren, um Berufliche Orientierung zu ermöglichen.
Zufällig bin ich gerade auf einen Live-Stream von Julia Engelmann auf Instagram gestoßen, die sich mit ihrer Mutter in einem Gespräch über psychologische Themen austauscht (Mutter scheint Psychologin zu sein). Irgendwie fand ich das Format ganz spannend und passend für die Corona-Zeit. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht, ob das „Fake-Soziale-Media-Gegenüber“ nicht doch nur oberflächliche Impulse senden kann 😉
Probieren geht über Studieren…ach, wie schön mit meinem alten Studi-Kumpanen in den Austausch zu gehen … da vermisst man fast schon Wuppertal! Aber was rede ich da – in Köln oder Düsseldorf lässt sich viel besser diskutieren! 🙂