Bevor ich einen neuen Blogeintrag schreibe, gibt es ein paar Prozesse, die ich im Vorhinein durchlaufe. Ich versuche erstens Themen präsent werden zu lassen, indem ich mich frage, was mich gerade beschäftigt. Meist sammle ich diese Themen dann im zweiten Schritt in meinem Inneren, in einem Gefäß, so stelle ich es mir vor. In diesem Gefäß bildet sich durch die Themenansammlung eine noch undurchsichtige Flüssigkeit, die beleuchtet und analysiert werden muss – und das nicht alleine, es braucht immer ein Gegenüber für diesen Prozess. Meine Freundinnen und ich schauen dann im dritten Schritt in dieses Gefäß und analysieren diese noch trübe Themen-Brühe. Was liegt unter der Oberfläche? Seit wann? Wie dicht ist sie und aus wie vielen unterschiedlichen Elementen ist sie zusammengesetzt?
In Gedanken sehe ich meine Freundinnen und mich mit Laborbrillen über ein Gefäß gebeugt, kritisch meine trübe Gedanken-Flüssigkeit analysieren. Stolz denke ich, wir sind voll die Wissenschaftlerinnen! Ich krame in meinen Erinnerungen, um meiner Metapher noch mehr Ausdruck zu verleihen. Chemieunterricht 9. Klasse: Wie war das nochmal? Edukte, Produkte, endotherme & exotherme Reaktionen – wie gewinnt man aus so einer bestehenden Masse nochmal Energie? Ich hab keinen blassen Schimmer. Anscheinend war ich in der 9. Klasse mit wichtigeren Themen beschäftigt, z.B. mit Stefan, der hatte soooo schöne A…, ach ist doch egal. Zurück zum Thema.
Allerdings schiebe ich diese produktive Umsetzung gemeinsam mit meinen Freundinnen jetzt schon seit Tagen vor mir her. Das dunkel gefüllte Gedanken-Gefäß wird immer voller und voller, die Themen-Flüssigkeit fängt an zu brodeln und die magische Umwandlung in eine klare Flüssigkeit bleibt aus. Jetzt! Schnell! Der Katalysator für die magische Umsetzung fehlt – rufen mir Gedankenfetzen aus dem Chemieunterricht zu. Die Flüssigkeit droht überzuschwappen – Hilfe! Auf einmal wird mir alles klar: Was soll ich sagen? In dem Gefäß befindet sich nicht nur meine Gedanken-Brühe, sondern noch ein anderer, hochexplosiver Stoff: Wut.
Ich bin wütend und kann nicht sagen warum. Die Wut, sie lähmt mein Denken. Lange habe ich versucht den Deckel auf der reagierenden Gedanken-Flüssigkeit zu lassen, so dass sie bloß nicht mit Sauerstoff in Berührung kommt und explodiert. Jetzt ist die Brühe aber schon ordentlich am Brodeln und nicht mehr aufzuhalten. Der Deckel fliegt ab, die Oberfläche wird sichtbar und ich werde gezwungen genauer hinzusehen.
Was ist Wut? Warum bin ich wütend? Wieso versuche ich diese Emotion zu unterdrücken?
Wut ist etwas Explosives. Ganz plötzlich bricht sie aus, unaufhaltsam bahnt sie sich ihren Weg, das Herz schlägt schnell, man möchte am liebsten etwas kaputt machen. Man fühlt sich ungerecht behandelt. Daraus gewinnt die Wut ihre Energie. Irgendwann, wenn der Sturm sich legt fühlt man sich erleichtert oder resigniert, wenn die Wut auf Unverständnis trifft. Dann köchelt sie nach dem ersten Ausbruch noch lange vor sich hin, bis sie irgendwann keine Energie mehr hat.
Wütend kann man wegen vielen Themen sein: Darauf, dass Frauen im Durchschnitt deutlich weniger als Männer verdienen, den größten Teil der Care-Arbeit leisten und deswegen ihre Erwerbsarbeit reduzieren, womit auch ein erhöhtes Armmutsrisiko einhergeht. Darauf, dass man als Frau nicht wütend sein darf ohne sofort als hysterisch eingestuft oder nach dem Zyklus gefragt zu werden.
Und genau deswegen lasse auch ich manchmal den Deckel auf meinem Gefäß. Reagiere nett und freundlich, obwohl die Suppe schon ordentlich am Dampfen ist.
Ich frage mich angesichts dieser trüben Gedanken-Brühe, wie es möglich wird Wut in etwas viel Besseres umzuwandeln, denn wir wissen alle, wenn man wütend ist, sagt und schreibt man manchmal Sachen, die man eigentlich nicht sagen wollte. Ich werde z.B. impulsiv, häufig auch unsachlich. Nicht alles an der Wut ist allerdings unproduktiv. Sie kann einem gleichzeitig ungeahnte Kräfte für die Umsetzung zu etwas Wirkungsvollem verleihen. Dafür bedarf es einer anderen Zutat und da wären wir wieder bei meinem Chemieunterricht. Richtig. Da war doch noch was, oder?
Es führt kein Weg daran vorbei. Ich krame meinen alten Chemieordner hervor und lerne: „Eine chemische Reaktion ist ein Vorgang, bei dem eine oder meist mehrere chemische Verbindungen in andere umgewandelt werden und Energie freigesetzt oder aufgenommen wird. Auch Elemente können an Reaktionen beteiligt sein.“ Okay, verstanden. Ich lese noch etwas weiter: „Katalysator bezeichnet in der Chemie einen Stoff, der die Reaktionsgeschwindigkeit durch die Senkung der Aktivierungsenergie einer chemischen Reaktion erhöht, ohne dabei selbst verbraucht zu werden.“
Chemie ist nicht mein Ding. Versuchen wir diese Logik in meine Realität zu übersetzen. Vorhanden ist erstens eine brodelnde Gedanke-Brühe (persönliche Themen) und diese lasse ich reagieren mit Stoff 2. gesellschaftlicher Ungerechtigkeit. Wenn ich jetzt den Katalysator-Effekt hinzufüge, z.B. meine Freundinnen mit ihrem reflektierten und kritischen Blick auf Themen, dann wird die Aktivierungsenergie (Wut) gesenkt, ohne dass meine Freundinnen selbst als Katalysator verbraucht werden. Als Endprodukt hätten wir also die Senkung der Wut, also der Aktivierungsenergie, bei gleichzeitiger Umwandlung der Wut in klare, analytische Gedanken. Yes, ich wusste es schon immer – nur gemeinsam sind wir stark und – Chemie ist voll logisch, oder?!
Es gibt also eine Geheimzutat, die ich diesem Umwandlungsprozess hinzugeben kann, auch um diesen zu beschleunigen, Trommelwirbel – Katalysatoren alias Freundinnen! Durch Gespräche verwandeln wir gemeinsam die trübe Brühe in einen festen Stoff, der greifbar und formulierbar wird. Ich vermute, dass dieser Prozess auch durch ein gelesenes Buch angeregt werden kann. Manchmal tut es sicher auch ein leckeres Essen, aber fragt mich hierbei bitte nicht nach der chemischen Reaktion.
Zurück zu der Flüssigkeit, die sich aktuell in meinem Gefäß befindet. Ziemlich wütend, denke ich. Schauen wir also nochmal genauer hin, um aus dieser Wut etwas Wirkungsvolles zu machen, das sollte das Tagesziel sein. Mein unterstützender Katalysator dieses Mal, meine Freundin und Filmemacherin, die voraussichtlich bald als feste Autorin einsteigen wird.
Wir sprechen, diskutieren und schwenken die braune Flüssigkeit mal in die eine und dann wieder in die andere Richtung. Was dieses Mal entsteht, ist keine heiße Luft, die in der Atmosphäre verpufft, sondern feste Grundgedanken zum Aufbau dieses Blogs (dazu im nächsten Beitrag mehr).
Bäm! In your face – trübe Brühe. Na, keine Lust mehr unter dem Deckmantel des Patriacharts zu brodeln? Kein Problem, ich habe den besten Katalysator, den man haben kann: Freundinnen mit starken Gedanken.
Magic happens – sometimes. Manchmal ist es auch einfach nur Chemieunterricht – 9. Klasse.
Wer mehr über den Zusammenhang von Wut, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Hormonen erfahren möchte, seien folgende Buchempfehlungen wärmstens empfohlen:
Mutter. Sein. Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Weges; Susanne Mierau, 2019
Period. Power. Harness your hormones and get your cycle working for you; Maisie Hill, 2019
Danke, das hast Du sehr schön geschrieben.